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Paul Rassinier

Operation "Stellvertreter"
Huldigung eines Ungläubigen

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Kapitel III


Die politischen Hintergründe des Unternehmens

 

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I. DER VERSAILLER VERTRAG ALS URSACHE

Der Stellvertreter ist nichts weiter als ein politisches Unternehmen. Um sich davon zu überzeugen, genügt es, die Behauptungen Rolf Hochhuths, seiner Manager und seiner Anhänger in ihren historischen Zusammenhang einzuordnen. Dazu müssen wir kurz zurückblenden, zumindest bis zur Machtergreifung Hitlers in Deutschland und auf die Rolle, die das religiöse Moment dabei spielte.

Der Versailler Vertrag hatte mit seinen wirtschaftlichen und finanziellen Klauseln Deutschland eine eiserne Zwangsjacke angelegt. Nachdem der Vertrag die deutsche Wirtschaft zerschlagen und unfähig gemacht hatte, auch nur das Geringste zu produzieren, was für den Export geeignet gewesen wäre, nahm er Deutschland außerdem für den Tag, an dem es wieder erstarkt sein würde, seine Kunden im Ausland (die Kolonien und die Donaustaaten) und unterwarf alle etwaigen Handelsverträge mit anderen Staaten drakonischen Bedingungen. So erlebte Deutschland, dessen Staatsgebiet um 102 000 Quadratkilometer beschnitten worden war, im Jahre 1923 einen ersten Bankrott, den die Weltkrise von 1929 (Bankkrach der Wallstreet), gegen die es gerade wegen des Versailler Vertrages empfindlicher sein mußte als irgendein anderer Staat, im Jahre 1932 endgültig zu machen drohte.

Dieses Jahr 1932 war für Deutschland ein entsetzliches Jahr: Am 31. Juli zeigte die offizielle Statistik dort 5 392 248 Arbeitslose an, was 12 bis 15% seiner erwerbstätigen Bevölkerung entsprach, während, wie es gegenwärtig das Beispiel der Vereinigten Staaten zu Beginn eines jeden Winters erneut zeigt, 5% das Maximum dessen darstellen, was bei den herkömmlichen Strukturen der Weltwirtschaft erträglich ist. Zu Beginn des Winters 1932/1933 war die 6-Millionen-Grenze überschritten und ein Ende dieser Entwicklung nicht abzusehen. Es braucht, glaube ich, nicht hervorgehoben zu werden, welche politische Unsicherheit aus dieser wirtschaftlichen Instabilität resultierte: Vom Ende des Frühjahres 1932 an gab es keine parlamentarische Mehrheit mehr, und die beiden Neuwahlen, die man nach zweimaliger Auflösung des Reichstages innerhalb von drei Monaten in der Hoffnung vornahm, eine sol-

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che zu finden, erwiesen sich nicht nur als vergeblich, sondern verschlimmerten die politische Lage nur noch.

Es wird heutzutage für gewöhnlich die Meinung vertreten - und unter Verleugnung ihrer Vorgänger von 1919 stehen die Sozialisten und Kommunisten an der Spitze derer, die dies behaupten -, daß Deutschland sich sehr wohl und sehr leicht mit den wirtschaftlichen und finanziellen Bestimmungen des Versailler Vertrages abfinden konnte, daß es aber systematisch nicht gewollt habe und einzig und allein um zu beweisen, daß es das nicht konnte, absichtlich selbst diese Situation geschaffen habe. Der Verfasser dieser Studie hat schon zu häufig und immer wieder dargelegt, daß es sich, welchen Ruf und welches Ansehen die Verfechter dieser These auch genießen mögen, nur um ungereimtes Zeug handelt. Er wird sich daher darauf beschränken, die Sozialisten und Kommunisten von heute auf ihre Vorfahren von 1919 zu verweisen, deren Urteil über diesen Punkt untadelig war und es auch geblieben ist.

Fest steht, daß der alte Feldmarschall Hindenburg am 30. Januar 1933 Hitler zum Nachfolger des Reichskanzlers von Schleicher ernannte. Zwei Tage vorher hatte von Schleicher - dem von Papen und diesem wiederum Brüning vorhergegangen war, alles dies in acht Monaten und bei zwei Parlamentswahlen! - in einer Atmosphäre sozialer Unruhen, die auf ihrem Höhepunkt angekommen war und zu der die NSDAP den Schlüssel besaß, seinen Rücktritt erklärt, nachdem er auch seinerseits im Reichstag ohne Regierungsmehrheit geblieben war.

Nicht, daß Hindenburg aus freien Stücken gehandelt hätte: Er hatte bis dahin von Hitler stets nur mit Geringschätzung gesprochen: "Jener böhmische Gefreite", sagte er. Doch die Umstände geboten es. Wenn man sagt, es habe keine Regierungsmehrheit gegeben, so handelt es sich dabei wohlverstanden um die Mehrheit der Mittelparteien unter Ausschluß der Nationalsozialisten und Kommunisten: Zusammen waren ihnen die beiden Extreme bei sämtlichen Abstimmungen zahlenmäßig überlegen. Aber rein rechnerisch gab es noch zwei weitere Mehrheiten, die sich jeweils auf einem Flügel aufbauten: eine Mehrheit der politischen Linken, die die Kommunisten, Sozialdemokraten und das katholische Zen-

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trum umfaßt hätte, wozu noch die wenigen Überlebenden der demokratischen Deutschen Staats-Partei gekommen wären, und eine Mehrheit der politischen Rechten, die vom katholischen Zentrum bis zu den Nationalsozialisten gereicht hätte. Die Kommunisten, die systematisch und ohne einen Unterschied zu machen gegen alle Regierungen stimmten - ein Verfahren, das, nebenbei gesagt, von 1919 an in fortschreitendem Maße sämtliche parlamentarischen Mehrheiten nach rechts gedrängt hatte -, machten die erste Mehrheit unmöglich. Das war der Grund, der das katholische Zentrum an dem Tage, an dem es die Überzeugung gewann, daß keinerlei Möglichkeit bestand, die Unterstützung der Kommunisten gegen Hitler im Parlament zu erlangen, bewog, ein Arrangement mit diesem zu suchen. Der Urheber dieses Übereinkommens war der Zentrumsführer Msgr. Kaas. Der gesamte deutsche Episkopat stand diesem Schritt feindlich gegenüber. Doch nach den Wahlen vom 6. November 1932 hielt Msgr. Kaas in Anbetracht ihrer Ergebnisse, die nichts oder so gut wie nichts am Kräfteverhältnis unter den Fraktionen geändert hatten, eine Rede, deren Thema im wesentlichen darin bestand, daß den sozialen Unruhen ein Ende gesetzt werden müsse, daß es nur einen Weg dazu gäbe, nämlich den, daß Deutschland regiert werden müsse, und daß man dadurch, daß man alle drei oder vier Monate an die Wählerschaft heranträte, nur die Agitation im Land in Gang hielte, ohne dabei an der parlamentarischen Situation irgend etwas zu ändern, und daß, da es keinerlei Möglichkeiten gäbe, mit den Kommunisten zu einem Kompromiß zu gelangen, nur noch ein Weg übrigbliebe, nämlich der Versuch, mit Hitler zu einem Vergleich zu kommen. Und er setzte sich dafür ein. Hitler, der der Überzeugung war, daß ihn, einmal Reichskanzler geworden, nichts würde hindern können, auf verfassungsmäßigem Wege unumschränkte Vollmachten zu erlangen, zeigte sich unter der Bedingung, daß ihm der Kanzlerposten zuteil würde, zu einem solchen Kompromiß bereit.

Die Regierung, die der neue Kanzler am 30. Januar 1933 bildete, umfaßte außer ihm selbst nur zwei Nationalsozialisten: den Innenminister Frick und den Staatsminister Göring. Die anderen acht Posten verteilten sich auf Mitglieder der Deutschnationalen Volkspartei und anderer kleiner Gruppen der politischen Rechten; Vize-

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kanzler war von Papen. Diese Zusammensetzung schien zu beweisen, daß Hitler gewillt war, verfassungsmäßig zu regieren.

Die wahre nationalsozialistische Regierung wurde erst im Anschluß an Wahlen gebildet, die am 5. März 1933 stattfanden, denn bereits beim ersten Zusammentritt des am 30. Januar gebildeten Kabinetts setzte Hitler den Beschluß zu einer erneuten Auflösung des Reichstages durch, was seinen ersten Regierungsakt darstellte.

Diese Wahlen vom 5. März 1933 nahmen eine besondere Wendung und sind es wert, daß man einen Augenblick bei ihnen verweilt. Zunächst einmal fanden sie unter der Kontrolle der an der Macht befindlichen NSDAP statt - ein gewichtiges Argument. Weiter war Msgr. Kaas, der Führer des katholischen Zentrums, immer noch davon überzeugt, daß Hitler verfassungsmäßig regieren würde; schließlich hatte dieser es ihm ja persönlich versprochen. In einer großen Wahlrede, die er am 2. März in Köln unter dem Vorsitz des späteren Bundeskanzlers und damaligen Bürgermeisters von Köln, Adenauer, der dieser Meinung beipflichtete, hielt, legte Msgr. Kaas seinen Standpunkt im einzelnen dar, wobei er klar herausstellte, daß es für die Rettung Deutschlands nur noch eine Lösung gäbe, da die Kommunisten . . . usw. usw. Und schließlich bildete Vizekanzler von Papen mit Hitler gegenüber der Wählerschaft eine Mannschaft. Ergebnis: Hitler erhielt 17 265 800 Stimmen gleich 43,7% und 288 Mandate, von Papen 52 Mandate mit 8% der Stimmen. Der neue Reichstag umfaßte 648 Abgeordnete: Die Rechtsparteien verfügten also über eine überwältigende Mehrheit. Von da an hatte Hitler freie Bahn: Die unumschränkten Vollmachten wurden ihm rasch in den verfassungsmäßigen Formen gewährt, und die Art und Weise, in der er davon Gebrauch machte, sammelte das deutsche Volk, das zu wiederholten Malen seine Beschlüsse durch Volksabstimmung mit Mehrheiten, die jedesmal an Einstimmigkeit heranreichten, begeistert billigte.

Man hat gesagt, daß die ganze Kunst Hitlers darin bestanden habe, das deutsche Volk davon zu überzeugen, daß die Ursache aller seiner Leiden der Versailler Vertrag sei. Doch in diesem Punkt sprachen sämtliche deutschen Parteien, von der äußersten Linken bis zur äußersten Rechten, die gleiche Sprache. Warum also gerade Hitler und nicht die Sozialdemokraten, das katholische Zentrum

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oder die Kommunisten? Die Antwort ist einfach: Hitler war geschickt genug, das deutsche Volk zu der Einsicht zu bringen, daß die feindliche Einstellung der Sozialdemokraten und des Zentrums gegenüber dem Versailler Vertrag überwiegend Fassade war. Die ersteren nämlich hatten ihn unterzeichnet, und beide zusammen hatten, obwohl sie seit gut zwölf Jahren an der Regierung teilnahmen, offenbar nicht sehr viele Anstrengungen gemacht, um die nach Artikel 19 der Völkerbundsakte vorgesehene Revision des Vertrages durchzusetzen. Er fügte hinzu, diese feindliche Einstellung sei deshalb nur Fassade, weil die beiden Parteien völlig den Juden ergeben seien, die er mit dem internationalen Großkapitalismus gleichsetzte und die, wie er anklagend sagte, die einzigen seien, die aus diesem Vertrag Vorteil zögen. Die Kommunisten hingegen seien nur die Agenten eines ebenfalls von den Juden inspirierten Unternehmens - war nicht Marx ein Jude? -, das nur darauf abziele, ihnen einen noch umfassenderen Einfluß auf Deutschland zu sichern, und zwar durch eine soziale Agitation, deren Zweck nur darin bestünde, sein wirtschaftliches und politisches Leben zu zerrütten, um das Land in ihre Abhängigkeit zu bringen. Deutschland ein Opfer der Juden und Marxisten, deren Hauptstadt Moskau sei. Es war nur ein Kinderspiel für ihn, aus dem durch Stalin repräsentierten Bolschewismus ein wahres Schreckgespenst mit Klauen zu machen, dem Deutschland, falls es ihm nicht gelingen würde, sämtliche Hypotheken, die durch den Versailler Vertrag auf ihm lasteten, zu beseitigen, unrettbar verfallen wäre.

Alles dies wurde in einem zugleich sicheren und entschiedenen Ton, einer klaren, mit packenden Formulierungen durchwirkten Sprache vorgetragen, die, wie selbst ein Mann wie William L. Shirer zugibt [267], "oft die Gipfel der Beredsamkeit erreichte". Es überzeugte und ließ Hitler in den Augen des deutschen Volkes als den einzigen Mann erscheinen, der es aus der Sackgasse, in der es durch den Versailler Vertrag festgehalten wurde, herausführen konnte. Auf alle Fälle hatten die anderen es schließlich in zwölf Jahren nicht daraus befreit. Und was ist zum Kern der Sache zu sagen? Es ist ganz offensichtlich, daß der Nationalsozialismus wie alle Dok-

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trinen, die im Feuer der Aktion geschmiedet werden - auch der Bolschewismus macht davon keine Ausnahme -, eine inhumane Lehre war. Dennoch wird man eines Tages sehr wohl zugeben müssen - man kommt zwar nur ganz langsam dahin, doch man kommt dahin -, daß er, zumindest in einem Punkt, unbestreitbar recht hatte: Es ist in der Tat sehr wahr, daß der Versailler Vertrag die Ursache aller übel war, unter denen das deutsche Volk litt und von denen die anderen Völker verschont waren. Da dieser Punkt das zentrale Thema der gesamten politischen Propaganda Hitlers darstellte, machte er seine ganze Stärke aus, und zwar in einem solchen Maße und so durchgreifend, daß der Stimmenanteil der NSDAP von 1924 (Reichstagswahlen vom 7. Dezember) bis 1932 (Reichstagswahlen vom 6. November) von 3% auf 33,1% stieg. (Bei den Reichstagswahlen vom 31. Juli 1932 hatte sie sogar 37,3% erzielt.)

Die internationale Finanzwelt, keineswegs nur die deutsche, entschied sich, insbesondere von 1928 an, dafür - auf welche Weise, habe ich an anderer Stelle dargelegt [268] -, Hitler unter Bevorzugung gegenüber allen deutschen Parteien, die eine Revision des Versailler Vertrages durch gemäßigtere Mittel und Wege forderten, auf dem Gebiet der Propaganda zu subventionieren und seine wirtschaftlichen und politischen Argumente durch ihre klingenden und vollwichtigen Argumente zu unterstützen.

Ich werde nicht wieder darauf zurückkommen: Vielmehr soll auf diesem Untergrund jetzt gezeigt werden, welche Rolle das religiöse Moment bei der Machtergreifung Hitlers spielte.

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II. DIE MOTIVE DER PROTESTANTEN

Nichts kann meines Erachtens die Rolle, die dieses Moment spielte, besser herausstellen als ein kurzer Überblick über die vier letzten Wahlen, die für die Weimarer Republik die Totenglocke läuteten: die Wahl des Reichspräsidenten am 14. März und 10. April 1932 und die drei Parlamentswahlen, die nach drei Auflösungen des Reichstages am 31. Juli 1932, am 6. November 1932 und am 5. März 1933 stattfanden.

Durch Erfahrung endlich klug geworden, werde ich zunächst einige Texte eines Mannes zitieren, der wie die meisten bekannten Persönlichkeiten unter den Gegnern des Nationalsozialismus niemals selbst gegen Hitler kämpfte, sondern sich damit begnügte, zwischen ihm und uns die Punkte zu notieren, und der daher mir gegenüber den Vorzug besitzt, nicht verdächtig zu sein: von William L. Shirer, auf den ich mich bereits zwei- oder dreimal berufen habe. Als amerikanischer Journalist hat William L. Shirer den Nationalsozialismus von seinen Anfängen bis zu seinem Untergang Schritt für Schritt verfolgt. Außerdem ist er Protestant, und in dieser Hinsicht ist seine Ansicht nicht uninteressant - aber nur in dieser Hinsicht, denn im Hinblick auf die Geschichte . . . Kurz, hören wir, was er als Zeuge der Ereignisse über die Präsidentenwahl vom 14. März und 10. April 1932 sagt:

"Alle herkömmlichen Partei- und Klassenbindungen gerieten in der . . . Hitze des Wahlkampfes durcheinander. Hindenburg, der Protestant, Preuße, Konservative und Monarchist, stützte sich auf die Sozialdemokraten, die Gewerkschaften, die Katholiken des Zentrums (unter Brüning) und die Reste der liberaldemokratischen bürgerlichen Parteien. Für Hitler, den Katholiken, Österreicher, früheren Obdachlosen, den 'Nationalsozialisten' und Führer der kleinbürgerlichen Massen, waren außer seinen eigenen Anhängern die protestantischen (bürgerlichen) Oberschichten des Nordens [269], die konservativen Agrarier (die Junker) und zahlreiche Monarchisten, zu denen sich in letzter Minute der frühere Kronprinz gesellte [270]."

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Oder ferner:

"Es war deutlich, daß, von den Katholiken abgesehen, die (bürgerlichen) Mittel- und Oberschichten zur NSDAP übergegangen waren [271]." Man hat richtig gelesen: " . . . von den Katholiken abgesehen . . . "

Oder ferner, dieses Mal jedoch im Hinblick auf die Reichstagswahlen:

"Während dieser Reichstagswahlen [es handelt sich um die drei obengenannten] konnte man nicht umhin zu bemerken, daß die protestantische Geistlichkeit - Niemöller war ein eindrucksvolles Beispiel dafür - sehr freimütig die Nationalisten und sogar die republikfeindlichen Nationalsozialisten unterstützte. Ebenso wie Niemöller begrüßten die meisten Protestanten die Übernahme des Kanzleramtes durch Adolf Hitler im Jahre 1933 mit Befriedigung [272]."

Die Sonderberichterstatter sämtlicher Zeitungen der Welt haben damals die gleiche Information, häufig in weitaus genaueren Worten, in sämtlichen Hauptstädten verbreitet. Obwohl sie seitdem oft in Erinnerung gerufen wurde - allerdings in einer Presse, die keinen sehr großen Leserkreis besitzt -, ist sie niemals auch nur im geringsten dementiert worden. Die Betroffenen und ihre Anhänger stellten sich taub: der Mantel, mit dem Noahs Scham bedeckt wurde. Es steht also fest: Die protestantische Geistlichkeit in Deutschland stand bei den Wahlkampagnen Hitlers an seiner Seite.

Und welche Haltung nahm der katholische Klerus ein? Vor jeder dieser vier Wahlen trat in Fulda die Konferenz der katholischen Bischöfe zu einer politischen Stellungnahme zusammen, und jedesmal endete sie mit einer öffentlich bekanntgemachten gemeinsamen Erklärung, die den Nationalsozialismus in heftigen Worten als eine Rückkehr zum Heidentum und seine Mitglieder als "Abtrünnige der Kirche, denen man die Sakramente verweigern muß", verurteilte, die empfahl, nicht für seine Kandidaten zu stimmen und es "den Katholiken [untersagte], Mitglied seiner Jugend- oder anderen Organisationen zu sein". Im April 1932 beim zweiten

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Wahlgang der Präsidentenwahl empfahlen die katholischen Bischöfe in Deutschland sogar, für den Protestanten Hindenburg zu stimmen, während die protestantische Geistlichkeit, wie man gesehen hat, für Hitler stimmen ließ!

Es soll nicht näher auf die Texte eingegangen werden, die diese Stellungnahme bezeugen. Es genügt, eine Tatsache anzuführen, die sie alle resümiert und die in der nichtkatholischen Presse groß herausgestellt wurde. Sie beweist, daß der katholische Episkopat in den entscheidenden Stunden des März 1933 und selbst noch nach dem Sieg des Nationalsozialismus bei den Reichstagswahlen vom 5. jenes Monats - für die die Konferenz von Fulda vom 22. Februar empfohlen hatte, wie bei den vorhergehenden Wahlen gegen seine Kandidaten zu stimmen - dem Nationalsozialismus immer noch mit heftiger Feindschaft gegenüberstand.

Die Eröffnungssitzung des am 5. März gewählten neuen Reichstages hatte am 21. März in Potsdam stattgefunden. Ihr gingen, dem Ritus gemäß, zwei religiöse Feierlichkeiten voraus, die eine in der Nikolaikirche für die Protestanten, die andere in der Peter-Pauls-Kirche für die Katholiken. In der ersteren wurde der Gottesdienst durch den protestantischen Bischof von Berlin, Dr. Dibelius, abgehalten, der in einer Predigt über das für seine Geisteshaltung sehr bezeichnende Thema "Ist Gott mit uns, wer mag wider uns sein?" den Sieg Hitlers begrüßte. Der katholische Bischof von Berlin, Msgr. Christian Schreiber, der in der letzteren die Messe lesen sollte, meldete sich krank - eine vorgeschützte Krankheit, wie man in der nationalsozialistischen Presse sagte - und beauftragte um einen Skandal zu vermeiden, einen seiner Vikare mit seiner Vertretung.

Entgegen den Gepflogenheiten, nach denen der Reichskanzler beiden Feierlichkeiten beizuwohnen hatte und nach denen seine Anwesenheit bei der zweiten um so mehr gefordert wurde, als er katholisch war, nahm er nicht daran teil. Am Tag darauf, dem 22. März, motivierte die Kölnische Volkszeitung, die diese Tatsache hervorhob, die Abwesenheit Hitlers und seines Propagandaministers (Goebbels) damit, daß "die katholischen Bischöfe von Deutschland . . . in einer Reihe von Erklärungen . . . Führer und Mitglieder der NSDAP als Abtrünnige der Kirche bezeichnet [haben], die

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nicht in den Genuß der Sakramente kommen dürften." (Erklärungen der Konferenz von Fulda, auf die weiter oben angespielt wurde.)

Der Propagandaminister fügte hinzu: "Der Kanzler hat während der Zeit des offiziellen Gottesdienstes zusammen mit dem Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, Dr. Goebbels, auf den dasselbe zutrifft, die Gräber seiner ermordeten SA-Kameraden auf dem Luisenstädtischen Friedhof in Berlin besucht."

Das zeigt, daß diese Verurteilung des Nationalsozialismus nicht auf den aus eigener Initiative, ohne Berücksichtigung der Meinung des Vatikans (wo Kardinal Pacelli, der spätere Pius XII., Staatssekretär war) handelnden katholischen Episkopat in Deutschland beschränkt war, sondern daß die katholische Kirche überall diesen Standpunkt vertrat. Für Frankreich ist das bekannt. Das gleiche war in Österreich der Fall, wo in allen Kirchen ein Hirtenbrief von Msgr. Johannes Gföllner, dem Bischof von Linz, vom 23. Januar 1933 verlesen wurde, aus dem sämtliche österreichischen Zeitungen und sämtliche katholischen Blätter Deutschlands große Auszüge abdruckten. Der Hirtenbrief selbst soll hier nicht wiedergegeben werden, doch sei die Einführung zitiert, die ihm in der Münchner Zeitung Schönere Zukunft vom 7. Februar 1933 vorangestellt wurde:

"Bekanntlich haben sich die katholischen Bischöfe Deutschlands bereits mehrfach gegen den Nationalsozialismus ausgesprochen. Soeben wurde nun von Dr. Gföllner, dem ersten der österreichischen Bischöfe, ein Hirtenbrief veröffentlicht, in dem er den Nationalsozialismus als Feind der Kirche verurteilt. Und da sich die Nationalsozialisten im katholischen Österreich, sei es in ihren Versammlungen, sei es in ihrer Presse, als echte Katholiken ausgegeben haben, leistet die Stellungnahme des Bischofs von Linz durch die Aufdeckung ihres Doppelspiels einen Dienst von äußerster Wichtigkeit. Dieser Grund veranlaßte uns, den Text seines Hirtenbriefes nachstehend zum Abdruck zu bringen [273]."

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Bei dieser Verurteilung des Nationalsozialismus durch die gesamte Kirche hat man im allgemeinen die Ansichten des damaligen Papstes Pius XI. nicht in Zweifel gezogen, sondern lediglich die seines Staatssekretärs Kardinal Pacelli, und das auch erst nach dem Kriege. Das war nur möglich, weil Kardinal Pacelli sich wenig darum kümmerte, Reklame für sich zu machen und seine persönliche Rolle hervorzuheben: Als wohlerzogener Mensch wußte er, daß Pius XI. in den Vordergrund gerückt werden mußte und daß diesem überall der Vorrang vor ihm gebührte. Doch haben es andere glücklicherweise für ihn getan. Aus Anlaß eines Zwischenfalls im Jahre 1935 zwischen dem deutschen Staat und dem Episkopat (es ging dabei um die Transferierung von Devisen) schrieben deutsche katholische Emigranten, die in die Schweiz geflüchtet waren und in Luzern Die deutschen Briefe herausgaben, in der Nummer vom 26. August dieser Zeitschrift:

" . . . der Papst, Kardinal Pacelli und ein Teil des deutschen Episkopats wünschten, die Konferenz von Fulda [die vom 19. bis 23. zusammengetreten war, um zu dieser Angelegenheit Stellung zu nehmen] solle das Verbot, das den Katholiken die Mitgliedschaft in der NSDAP, den Jugendorganisationen oder anderen Organisationen der Partei untersagte, wieder in Kraft setzen."

Dies hätte den Bruch des im Vorjahr zwischen dem Dritten Reich und dem Heiligen Stuhl unterzeichneten Konkordats bedeutet. Er wurde vermieden, jedoch nicht durch eine Konzession des Papstes, Kardinal Pacellis oder des Episkopats, sondern durch eine Konzession des Dritten Reiches im Verlauf einer Unterredung zwischen Dr. Kerrl, dem Reichsminister für kirchliche Angelegenheiten, und Kardinal Bertram, dem Vorsitzenden der Konferenz, am 19. August in Fulda selbst. Der Minister versprach, "die antichristlichen Extremisten der Partei zur Räson zu bringen [274]", und Hitler bestätigte dieses Versprechen telegraphisch. Trotzdem veröffentlichte die Konferenz ein gemeinsames Schreiben der Bischöfe, das am 1. September 1935 in sämtlichen katholischen Kirchen Deutschlands verlesen wurde und das das Pariser Wochenblatt Sept (von FranÁois Mauriac!) am 19. desselben Monats unge-

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kürzt mit dem Kommentar veröffentlichte: "Offene und deutliche Erklärungen . . . Man hat einmütig beschlossen, das Neuheidentum [den Nationalsozialismus] zu bekämpfen und eine aktive Verteidigung dagegen zu organisieren." In Übereinstimmung mit Pius XI. und Kardinal Pacelli, die, wie wir gesehen haben, interveniert hatten. Alles dies beweist, daß damals niemandem der Gedanke kam, daß der künftige Papst Pius XII. dem Nationalsozialismus nicht von Grund aus feindlich gesonnen sei. Die Artikel der französischen Zeitungen Le Populaire (sozialistisch) und L'Humanité (kommunistisch), die seine Wahl begrüßten und die im Anhang zitiert sind [275], beweisen, daß es 1939 noch genauso war. Die anderen, ebenfalls im Anhang aufgeführten Presseauszüge aus der Nachkriegszeit [276] beweisen überdies, daß sich auch lange nach dem Kriege noch nichts daran geändert hatte.

Um mit der Rolle, die das religiöse Moment bei der Machtergreifung Hitlers spielte, zum Schluß zu kommen, muß folgendes festgestellt werden: Die deutschen Protestanten, die Pius XII. eine angeblich pronazistische Einstellung vorwerfen, sind für Hitler ein Erfolgsfaktor gewesen, gegenüber dem die katholische Kirche Pius XI., Kardinal Pacelli und der katholische Episkopat in Deutschland ohnmächtig waren. Wenn man berücksichtigt, daß in dem Deutschland der Jahre 1932/1933 die Protestanten nahezu zwei Drittel der Bevölkerung, die Katholiken hingegen nur ungefähr ein Drittel ausmachten, kann man sagen, daß sie in Wirklichkeit der katholischen Kirche und Kardinal Pacelli, dem Staatssekretär des Vatikans und späteren Pius XII., den Vorwurf machen, es nicht fertiggebracht zu haben, eine Situation aus der Welt zu schaffen, die sie, die Protestanten, selbst geschaffen hatten. Doch sehen wir weiter.

Bei jener feierlichen Eröffnungssitzung des neuen Reichstages am 21. März 1933 wurde die Erklärung Hitlers zur allgemeinen Politik mit 441 gegen 94 Stimmen angenommen. Anwesend waren 535 von insgesamt 648 Abgeordneten: Die fehlenden, insbesondere die gesamte kommunistische Fraktion sowie ein Dutzend

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Sozialdemokraten waren festgenommen und außerstande gesetzt worden, an der Abstimmung teilzunehmen. Msgr. Kaas, der Wortführer des katholischen Zentrums, hatte das Wort ergriffen, um die Abstimmung für die Erklärung warm zu empfehlen, und seine Fraktion folgte ihm geschlossen. Doch Msgr. Kaas repräsentierte nicht die Meinung des katholischen Episkopats in Deutschland: Bekanntlich hatte die Fuldaer Konferenz am 19. Februar 1933, einige Tage bevor er am darauffolgenden 2. März unter dem Vorsitz und der Billigung Dr. Konrad Adenauers, des damaligen Bürgermeisters von Köln, seine Rede hielt, in der er eine Verständigung mit Hitler empfahl und sich für seine Absichten verbürgte, das Anathem des Episkopats gegen den Nationalsozialismus erneuert. Andererseits trat Msgr. Kaas am nachfolgenden 2. April von seinem Posten als Fraktionsvorsitzender des Zentrums zurück, und am 9. begleitete er unter dem Vorwand, bei den allerersten Verhandlungen für das Konkordat zwischen dem Dritten Reich und dem Heiligen Stuhl als Vermittler zu dienen, von Papen und Göring nach Rom, wo er gleichsam in der Versenkung verschwand: Er wurde in Deutschland nie wieder gesehen. Die meistvertretene allgemeine Ansicht geht dahin, daß der Heilige Stuhl ihn aus Unzufriedenheit über seine seit November 1932 gezeigte hitlerfreundliche Haltung kraft päpstlicher Autorität endgültig von der politischen Bühne abtreten ließ. Da sein Fall häufig als Beweis für die Sympathien der katholischen Kirche für Hitler angeführt wurde, ist es wichtig, dies zu betonen. Man kann sicher andere katholische Bischöfe anführen, die mit Recht der Willfährigkeit gegenüber dem Nationalsozialismus beschuldigt wurden: Msgr. Gröber aus Freiburg zum Beispiel oder Msgr. Berning aus Osnabrück. Doch das war erst nach Hitlers Machtergreifung, und außerdem stellen sie nur sehr seltene Ausnahmen von der allgemeinen Linie dar, während, wie wir gleich sehen werden, auf protestantischer Seite sowohl vor dem Triumph Hitlers als auch noch lange Zeit danach die Fälle von Feindseligkeit gegenüber Hitler unter den Bischöfen die Ausnahme bilden.

Doch kommen wir auf den Reichstag zurück: Auf die feierliche Eröffnungsversammlung vom 21. März, in der die Erklärung zur allgemeinen Politik mit 441 gegen 94 Stimmen (die der Sozial-

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demokraten auf die Stellungnahme ihres Fraktionsführers hin) angenommen wurde, folgte zwei Tage später, am 23. März, eine andere Versammlung, in deren Verlauf Hitler mit den gleichen Stimmenverhältnis in der Form eines sogenannten Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich für vier Jahre unumschränkte Vollmachten erhielt. Bei der Vorlage dieses Gesetzes erklärte Hitler:

"Die Regierung beabsichtigt, von diesem Gesetz nur insoweit Gebrauch zu machen, als es zur Durchführung der lebensnotwendigen Maßnahmen erforderlich ist. Weder die Existenz des Reichstages noch des Reichsrates soll dadurch bedroht sein. Die Stellung und die Rechte des Reichspräsidenten bleiben unberührt . . . Der Bestand der Länder wird nicht beseitigt. Die Rechte der Kirchen werden nicht geschmälert, ihre Stellung zum Staat nicht geändert . . . Die Zahl der Fälle, in denen eine innere Notwendigkeit vorliegt, zu einem solchen Gesetz die Zuflucht zu nehmen, ist eine begrenzte [277]."

Im Verlauf dieser Rede betonte er: "Ihre Sorge [die der Regierung] gilt dem aufrichtigen Zusammenleben zwischen Kirche und Staat . . . [Insbesondere] legt die Reichsregierung . . . den größten Wert darauf, die freundschaftlichen Beziehungen zum Heiligen Stuhle weiter zu pflegen und auszugestalten", was eine unverhüllte Anspielung auf seinen Wunsch darstellte, ein Konkordat mit ihm abzuschließen.

Die Fuldaer Bischofskonferenz, die am 29. März 1933 zusammengetreten war, erklärte daraufhin:

"Es ist nunmehr anzuerkennen, daß von dem höchsten Vertreter der Reichsregierung, der zugleich autoritärer Führer jener Bewegung ist, . . . feierlich Erklärungen gegeben sind, durch die der Unverletzlichkeit der katholischen Glaubenslehre (des katholischen Glaubens und der Missionen) und den unveränderlichen . . . Rechten der Kirche Rechnung getragen sowie die vollinhaltliche Geltung der von den einzelnen deutschen Ländern mit der Kirche abgeschlossenen Staatsverträge ausdrücklich zugesichert wird [278]."

In seinem Kommentar hierzu fügte Msgr. Preysing, der Erz-

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bischof von Eichstätt, am 30. März hinzu: "Die Erklärungen des Reichskanzlers vom 23. März vor dem deutschen Reichstag berechtigen die Bischöfe, in der gegenwärtigen Stunde die bisher bekundete Opposition aufzugeben [279]." Es handelt sich wohlgemerkt um die Opposition gegen die Regierung, nicht um die Opposition gegen die nationalsozialistische Doktrin. Man beachte überdies die vorsichtige Ausdrucksweise: in der gegenwärtigen Stunde, sagte der Erzbischof, was nicht bedeutet: endgültig.

Sämtliche Bischöfe des Reiches gaben ihren Gläubigen die Erklärung von Fulda in den gleichen Worten wieder, und der Osservatore Romano [280], also der Heilige Stuhl, billigte sie.

Der Waffenstillstand zwischen der Kirche und dem Dritten Reich war nicht von langer Dauer: nur gerade so lange, wie es für den Abschluß eines Konkordats erforderlich war. Es war kaum unterzeichnet, als auch schon der Kampf aus Anlaß der vielfachen Verletzungen, denen es seitens der Regierung des Dritten Reiches ausgesetzt wurde, wieder aufflammte. Es kamen die Protestnoten Kardinal Pacellis, die Enzyklika Mit brennender Sorge, die wiederholten Verurteilungen des Nationalsozialismus durch Kardinal Pacelli, der inzwischen Papst Pius XII. geworden war, usw. Wir werden nicht mehr darauf zurückkommen [281].

Wie verhielt sich währenddessen die protestantische Geistlichkeit gegenüber Hitler und dem Nationalsozialismus?

Erst Anfang 1934 begannen die Beziehungen zwischen dem Dritten Reich und der protestantischen Kirche sich zu verschlechtern, allerdings nur zwischen dem Dritten Reich und einer kleinen Minderheit von Pastoren. Es kam zu Meinungsverschiedenheiten über die Konstituierung der protestantischen Kirche als Reichskirche, ein von Hitler gehegtes Parallelprojekt zu seinem Plan eines Konkordats mit dem Heiligen Stuhl.

Zu Beginn fand dieses Projekt die Zustimmung der gesamten protestantischen Geistlichkeit. Zumindest erhob sich unter den

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17 000 Pastoren keine Stimme des Protestes. Andererseits waren, wie uns William Shirer sagt, darunter 3000 aktive Kämpfer der NSDAP. Sie hatten einen gewissen Ludwig Müller, den Militärgeistlichen des ostpreußischen Wehrkreises, einen Freund des Führers und überzeugten Nationalsozialisten, an ihrer Spitze.

Sie "vertraten [innerhalb der protestantischen Kirche] . . . die [nationalsozialistische] Rassenlehre und das . . . [Prinzip der deutschen Vormachtstellung] und wollten sie auf eine alle Protestanten zusammenfassende Reichskirche anwenden [282]". Nachdem die Statuten dieser "Reichskirche" von den Vertretern der verschiedenen protestantischen Kirchen Deutschlands - es gab davon 28 verschiedene Ausprägungen! - ausgearbeitet worden waren, wurde sie am 14. Juli vom Reichstag offiziell anerkannt. Wie erinnerlich, bestand der erste Vorwurf, der gegen Pius XII., den damaligen Kardinal Pacelli und Staatssekretär des Vatikans, erhoben wurde, darin, daß er damals im Hinblick auf die Unterzeichnung eines Konkordats trotz aller Untaten des Nationalsozialismus mit der Regierung des Dritten Reiches in Verbindung getreten war. Die Protestanten, die ihm diesen Vorwurf machten, haben schließlich das gleiche getan. Ebenso wurde bereits gesagt, daß zur gleichen Zeit auch die demokratischen Länder England und Frankreich - ebenfalls ungeachtet der Missetaten des Nationalsozialismus - in Hinblick auf die Unterzeichnung des berühmten Viererpaktes mit der Reichsregierung in Verbindung getreten waren. Die Logik aller dieser Leute besteht anscheinend darin, daß während des Sommers 1933 jedermann das moralische Recht hatte, mit dem Dritten Reich zu verhandeln, nur nicht der Heilige Stuhl! In der Tat eine bemerkenswerte Logik.

Da in den protestantischen Kreisen kein grundsätzlicher Einwand erhoben worden war, wurde der nächste Schritt in Angriff genommen: die Ernennung des "Papstes" der neuen Kirche. Sie erfolgte Anfang September auf der Synode von Wittenberg. Und jetzt setzten die Schwierigkeiten ein. Die Delegierten dieser Synode waren für Pastor Friedrich von Bodelschwingh, der Führer hingegen für seinen Freund Ludwig Müller, was er am Vorabend

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der Wahl öffentlich im Rundfunk kundtat. Nachdem Pastor Friedrich von Bodelschwingh seine Kandidatur zurückgezogen hatte, wurde Ludwig Müller einstimmig gewählt. Weder der Führer noch irgendeiner der protestantischen Geistlichen hatte an Pfarrer Dr. Martin Niemöller gedacht. Böse Zungen haben behauptet, er sei deswegen sehr gekränkt gewesen. Doch wenn es zutreffend wäre, daß diese Entscheidung den Keim für seine Opposition gegen Hitler in sich trug, müßte man einräumen, daß er es nicht sogleich zeigte. Er hatte vorher bei der Schaffung einer Pastorenvereinigung, des Pfarrernotbundes, mitgewirkt, und war dessen Vorsitzender geworden. Um nun über seine Absichten im Anschluß an die Ernennung Dr. Ludwig Müllers zum Oberhaupt der Reichskirche keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, richtete er an sämtliche Pastoren ein Rundschreiben, in dem es hieß: "Die Mitglieder des Pfarrernotbundes stehen unbedingt zu dem Führer Adolf Hitler [283]."

Am nachfolgenden 14. Oktober, nachdem Deutschland den Völkerbund demonstrativ verlassen hatte, telegraphierte Präsident Niemöller im Namen des Pfarrernotbundes an den Reichskanzler Adolf Hitler:

"In dieser für Volk und Vaterland entscheidenden Stunde grüßen wir unseren Führer . . . geloben wir treue Gefolgschaft und fürbittendes Gedenken [283]."

Seine Tätigkeit im Namen dieser Organisation brachte ihn an die Spitze einer der 28 protestantischen Sekten Deutschlands, der Bekennenden Kirche, die eine Opposition gegen die kurz zuvor geschaffene Reichskirche zu bilden suchte.

Doch diese Opposition richtete ihre Schläge weit mehr gegen diese Kirche als gegen Hitler und den Nationalsozialismus, denn als es Hitler gelungen war, am 25. Januar 1934 die beiden Parteien zum Zweck eines Übereinkommens zusammenzubringen, erklärte das von Niemöller aufgenommene Protokoll dieser Zusammenkunft Hitler gegenüber noch immer: " . . . Wir brauchen Ihnen nicht zu versichern, wie dankbar wir Ihnen sind, daß Sie unser äußerlich und innerlich zersetztes Volk vom Abgrund weggeris-

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sen und zu neuer Entfaltung seiner Kräfte freigemacht haben [283]."

Und man kehrte schlecht und recht unter die Fittiche Hitlers zurück, und die Meinungsverschiedenheiten zwischen der Bekennenden Kirche und den übrigen protestantischen Sekten blieben unverändert bestehen. In Wirklichkeit, wie uns nochmals William L. Shirer sagt, ließen diese Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Geistlichkeit deutlich werden, "daß der Widerstand der protestantischen Kirchen [gegen die Nazifizierung lediglich] von einer Minderheit der Geistlichen und einer noch kleineren Minderheit der Gläubigen ausging [284]".

Im Juli 1935 versuchte Hitler erneut, alle diese Meinungsverschiedenheiten zu beseitigen, die ihn zwar nicht beunruhigten, aber doch ärgerten. Er beauftragte daher den Reichsminister für kirchliche Angelegenheiten, Dr. Kerrl, eine erneute Zusammenkunft zu veranlassen. Hieraus ging ein Reichskirchenausschuß hervor, in dem Dr. Zoellner, ein ehrwürdiger, von allen protestantischen Gruppen geschätzter und geachteter Pastor, den Vorsitz führte. Dr. Martin Niemöller vertrat zwar den Standpunkt, daß seine protestantische Kirche die einzig wahre protestantische Kirche sei, erklärte sich jedoch zu einer Mitarbeit in diesem Reichskirchenausschuß bereit.

Im Mai 1936 richtete er an Hitler ein höfliches Schreiben, um gegen die antichristlichen Tendenzen des Regimes zu protestieren und ihn zu ersuchen, der Einmischung des Staates in die kirchlichen Angelegenheiten ein Ende zu setzen. Hitler verübelte ihm das nicht.

Erst am 27. Juni 1937 tat er mit einer über das Thema seines Schreibens vom Mai 1936 in seiner Kirche in Berlin-Dahlem gehaltenen Predigt öffentlich den Sprung in die Opposition. Diese Predigt enthielt eine Stelle, die eine Herausforderung bedeutete: "Wir gedenken ebensowenig von unseren eigenen Kräften Gebrauch zu machen, um dem Arm der Obrigkeit zu entgehen, wie ehedem die Apostel. Wir sind jedoch entschlossen, ebensowenig auf Befehl des Menschen zu schweigen, wenn Gott zu sprechen gebietet. Denn heute und immerdar müssen wir Gott mehr gehorchen als dem Menschen [285]."

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Am 1. Juli wurde er verhaftet und ins Gefängnis eingeliefert. Am 2. März 1938 kam er dann vor ein Sondergericht, das ihn zu sieben Monaten Gefängnis und 2000 Mark Geldstrafe verurteilte. Die Gefängnisstrafe war durch die Untersuchungshaft abgegolten: Beim Verlassen des Gerichtssaales wurde er von der Gestapo festgenommen und als "persönlicher Gefangener des Führers", was kein geringer Schutz war, in ein Konzentrationslager (für einige Monate nach Sachsenhausen, dann nach Dachau) geschickt. Erst die amerikanischen Truppen befreiten ihn aus diesem Lager.

Man kann mindestens sagen, daß sie ein wenig spät kam, diese Stellungnahme des Pastors Martin Niemöller, der sich im Jahre 1924 dem Nationalsozialismus angeschlossen und ihn von da an bei jeder Gelegenheit unterstützt hatte, insbesondere, wie man gesehen hat, in seinen Wahlkampagnen, der ferner Verfasser eines Buches war, das eine Verteidigungsschrift des Nationalsozialismus darstellte [286] und mit einer Bemerkung endete, die seine Befriedigung zum Ausdruck brachte, daß die nationalsozialistische Revolution schließlich triumphiert und jenes nationale Wiedererwachen zur Folge gehabt habe.

Wenn man sicher wäre, daß dieser Sprung in die Opposition nicht suspekt wäre, würde man gern sagen: "Besser spät als nie." Doch was soll man von jenem Brief halten, den er im September 1939, nachdem der Krieg ausgebrochen war, während er doch seit Juli 1937 inhaftiert war, an seinen Freund Großadmiral Raeder schrieb: "Da ich bislang vergeblich auf meine Einberufung zum Dienst gewartet habe, . . . melde ich mich nunmehr ausdrücklich als Freiwilliger . . . Ich bin 47 Jahre alt, körperlich und geistig völlig leistungsfähig und bitte um irgendeine Verwendung im Kriegsdienst [287]."

Freiwilliger in den Armeen des Nationalsozialismus, bei voller Kenntnis hinsichtlich der von ihm verfolgten Ziele - das wirft

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nun doch ein eigenartiges Licht auf die Natur und die Aufrichtigkeit seiner "Opposition gegen das Regime".

Solch ein Mann ist in Deutschland eine hervorragende Persönlichkeit - ein Mann, der, nachdem er jahrelang die Menschen, auf die er einen gewissen Einfluß ausübte, veranlaßt hatte, sich dem Nationalsozialismus anzuschließen, und der, nachdem er offenbar nur deshalb mühelos aus dem Abenteuer herausgekommen war, weil Hitler ihn in seinen Armeen nicht haben wollte, anschließend forderte, gegen diejenigen, die seinem Rat gefolgt waren, erbarmungslos vorzugehen. Und der sich ferner unter den gewichtigsten Anklägern Pius' XII. und glühendsten Anhängern Rolf Hochhuths - der im übrigen eines seiner Schäflein ist - befindet.

Die Verhaftung Pastor Niemöllers stürzte die ihres Hauptes beraubte Bekennende Kirche in Verwirrung: Man hörte kaum noch etwas von ihr. Im anderen protestantischen Lager war am 12. Februar 1937 Dr. Zoellner aus dem Reichskirchenausschuß ausgetreten, weil die Polizei des Dritten Reiches ihn daran gehindert hatte, sich zu Nachforschungen nach Lübeck zu begeben, wo neun protestantische Pastoren verhaftet worden waren. Am Ende des Jahres erklärte sein Nachfolger Dr. Marahrens, der Bischof von Hannover, öffentlich, "daß die nationalsozialistische Weltanschauung als nationale und politische Lehre für das deutsche Volk bestimmend und als solche auch für deutsche Christen verpflichtend sei". Im Frühjahr 1938 ging er sogar so weit, für sämtliche Pastoren seiner Diözese anzuordnen, einen persönlichen Treueid auf den Führer zu leisten. "In kurzer Zeit", sagt uns William L. Shirer, "kam die große Mehrheit der evangelischen Geistlichen der Anweisung nach [288]." Und in ganz Deutschland war es ebenso. Daß sich Pastoren der Nazifizierung der deutschen protestantischen Kirche widersetzten, steht außer Zweifel: Hunderte und aber Hunderte sind verhaftet und in die Konzentrationslager geschickt worden. Doch ebenso sind auch Hunderte und aber Hunderte von katholischen Priestern verhaftet worden und in die Konzentrationslager gewandert. Was wir sagen wollen, ist nur, daß die protestantischen Widerstandskämpfer sich gegen die allgemeine Linie ihrer Kirche

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wandten, während die katholischen Widerstandskämpfer in der allgemeinen Linie ihrer Kirche standen. Man wird mir verzeihen, daß ich mich so häufig auf William L. Shirer berufe, doch schließlich ist er selbst Protestant, und trotzdem hat keiner besser als er das allgemeine Verhalten der Gesamtheit der deutschen Protestanten charakterisiert, der Pastoren und Schäflein gemeinsam, die zwischen den Anhängern einer zur nationalsozialistischen Reichskirche umgewandelten protestantischen Kirche und den Verfechtern der totalen politischen Unabhängigkeit der protestantischen Kirche hin und her gerissen wurden: "Zwischen beiden Gruppen", so schreibt er, "stand die Mehrheit der Protestanten, die offenbar zu zaghaft war, sich zu der einen oder anderen Gruppe zu bekennen, . . . und schließlich größtenteils in Hitlers Armen landete, . . . seine Einmischung in kirchliche Angelegenheiten hinnahm und sich seinen Befehlen ohne offenen Widerspruch beugte [289]."

Und auch ohne irgendwelchen anderen Widerspruch.

Diese Feststellungen haben keinen sehr großen Indikativen Wert: Man muß die Furcht in Rechnung stellen, die das Regime der Geistlichkeit und der Masse der deutschen Protestanten einflößte. Doch schließlich erweckte dieses Regime bei den Katholiken die gleiche Furcht und bewirkte bei ihnen trotzdem nicht, daß sie "größtenteils", der Klerus an der Spitze, "in Hitlers Armen" landeten und "seine Einmischung in kirchliche Angelegenheiten" hinnahmen. Man muß auch zugeben, daß die Katholiken gegenüber den Protestanten einen beachtlichen Vorteil besaßen: einen Nuntius in Berlin und einen Papst in Rom, der erstere unverletzlich und der zweite außerhalb der Reichweite von Repressalien, die in ihrem Namen Protest erheben konnten und sich dessen auch nicht enthielten. Aber jedenfalls war es ein katholischer Bischof, Msgr. Graf von Galen aus Münster, und nicht ein protestantischer Bischof, der sich gegen die Euthanasie erhob . . .

Es war notwendig, das Verhalten der protestantischen Kirche, ihrer Bischöfe und ihrer insgesamt 17 000 Pastoren im einzelnen ins Gedächtnis zu rufen. Wir haben es nicht aus freien Stücken getan. "Für jede Sünde Barmherzigkeit" - wenn dies das Gesetz des

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Gottes der Christen ist, so ist es auch das des Gewissens der Atheisten, obgleich es leider nicht das der Menschen im allgemeinen ist. Wenn diese Kirche nicht dieses Gesetz ihres eigenen Gottes so weit vergessen hätte, daß sie das Gewissen eines Unschuldigen mit einer Sünde belastete, die sie und nicht er begangen hat, und sich nicht heute zur Anklägerin aufwürfe, hätten wir uns wohl davor gehütet. Und wenn wir es getan haben, so nicht nach Art eines Hochhuth, um irgendwelche x-beliebigen Verwünschungen gegen sie auszustoßen, sondern lediglich, um an das alte Sprichwort von dem Dieb zu erinnern, der "Haltet den Dieb!" schreit. Wenn man von den Prinzipien zu den Tatsachen hinabsteigt, weiß man andererseits sehr wohl, daß unter einer Diktatur wie auch im Kriege der Mensch die Maßstäbe seines Handelns verliert und sein Verhalten sich jeglichem Werturteil entzieht. Ich habe das im Konzentrationslager (in der gleichen Weise wie Louise Michel) sowie bei Kampfhandlungen im Kriege persönlich erfahren. Alle Vernunft ist ausgeschaltet, bei den Männern des Glaubens in noch viel stärkerem Maße. Und in diesem Punkt wird uns vor Pius XII. Achtung abgenötigt: Das Verhalten dieses Mannes des Glaubens nämlich wurde von rationalen Grundsätzen bestimmt, die im Gegensatz zu denen des Glaubens stets menschlich sind.

Unter der Diktatur Hitlers also: Nehmen wir das zur Kenntnis und gehen wir weiter. Doch vorher?

Für die Zeit vorher bleibt die Tatsache bestehen, daß die gesamte protestantische Geistlichkeit und selbst jene kleine Minderheit, die später, erst viel später, in die Opposition ging und deren typischster Vertreter Pastor Niemöller ist, für Hitler Partei ergriffen und zu einem der Faktoren für seinen Erfolg wurden, obgleich Deutschland Republik war und keinerlei Druck ausgeübt wurde. Der katholische Klerus, der Heilige Stuhl, Pius XI. und Kardinal Pacelli, der spätere Pius XII., dagegen . . . [290]

Auch jene Sünde wird der protestantischen Kirche vergeben werden, denn in den Wirren jener Zeit . . . (siehe oben). Und, wie dem auch sei, auch das steht in der Heiligen Schrift: "Dem, der viel gesündigt hat, wird viel vergeben werden." Auf Grund dessen

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wird man ihr sogar eine noch weitaus schwerere Sünde vergeben, nämlich die, daß sie sich heute zur Anklägerin aufwirft. Doch wenn man so alles vergeben hat, behält man trotzdem das Recht zu sagen, daß man es gern gesehen hätte, daß von ihr diese letzte Sünde nicht begangen worden wäre. Möge die protestantische Kirche sich doch darüber klar werden, daß, wenn sich in dieser Angelegenheit jemand erlauben durfte, Anklage zu erheben, dann nicht sie es war. Und möge sie, wenn sich zufällig einer ihrer Gläubigen, der sich wie Hochhuth so weit verirrt hat, daß er jegliches moralische Gefühl verloren hat, bis zu einer solchen Schändlichkeit wie dem Stellvertreter hinreißen läßt, es nur zum Anlaß nehmen, ihre eigene Schuld einzugestehen und so demütig wie möglich einem Menschen Achtung zu erweisen, der, obwohl er Papst war, dennoch vor dem Nationalsozialismus und dem Krieg weit mehr Größe bewies als irgendeiner ihrer Pastoren und selbst, wenn man sie alle zu einem riesigen Bündel zusammenfassen würde, mehr als sie alle zusammen.

Ich weiß wohl, warum sie das nicht getan hat:

Da ist zunächst jene bereits erwähnte allgemeine Geisteshaltung, die nur sehr wenige Menschen zu überwinden vermögen: die Haltung derjenigen, die im Bewußtsein ihrer eigenen Schuld sich ein gutes Gewissen zu verschaffen suchen, indem sie einen ebenso Schuldigen oder noch Schuldigeren als sie selbst zu finden trachten. Es ist ein instinktmäßiges und durchaus menschliches Verhalten. Menschlich in dem Sinne, in dem dieses Adjektiv eine Schwäche des Menschen hinsichtlich seiner Einsicht in die Dinge bezeichnet, in einem Sinne, der dem Humanismus diametral entgegengesetzt ist. Hinzu kommt in diesem besonderen Fall die den Protestanten angeborene antipäpstliche Einstellung, der Kern ihrer Lehre. Und schließlich die durch den Zweiten Weltkrieg geschaffene völlig neue politische Situation, in der sich die protestantische Kirche Deutschlands heute befindet.

Das aus dem protestantischen Preußen hervorgegangene, im Zeichen des Kulturkampfes entstandene Deutschland des Jahres 1914 war ein Reich, in dem Protestanten und Katholiken sich im Verhältnis zwei zu eins gegenüberstanden. Der Kaiser war Protestant, der Reichskanzler war Protestant und die Führer der Armee und

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der Polizei waren ebenfalls Protestanten. Die protestantische Kirche übte in diesem Deutschen Reich einen beträchtlichen Einfluß auf die Politik aus. Ein hoher katholischer Staatsbeamter wäre nicht denkbar gewesen.

Der Kulturkampf, Ausdruck eines liberalen Prinzips, war aus der Reaktion Bismarcks gegen die Politik Pius' IX. und insbesondere gegen das Dogma von der päpstlichen Unfehlbarkeit entstanden, das dieser Papst am 18. Juli 1870 durch ein Konzil (Erstes Vatikanisches Konzil) verkünden ließ. Auf Regierungsebene äußerte sich der Kulturkampf durch Ausnahmegesetze gegen die Katholiken (Unterdrückung der Freiheit der Kirche, obwohl diese z. B. durch die preußische Verfassung von 1850 garantiert worden war). Die Protestanten waren nicht davon betroffen. Hätten sich diese Gesetze nur auf Preußen erstreckt, so hätten daraus keine ernsthaften Nachteile entstehen können, obgleich sie von himmelschreiender Ungerechtigkeit waren. Da sie jedoch ganz Deutschland betrafen, bewirkten sie, daß sich das katholische Drittel der Bevölkerung gerade in dem Augenblick gegen Bismarck zusammenschloß, in dem es dem aufsteigenden Marxismus gelang, nahezu ein weiteres Drittel um sich zu scharen. Um im Reichstag nicht überstimmt zu werden, mußte Bismarck nachgeben (1880, sog. Friedensgesetz). Da die Katholiken keinerlei Konzessionen gemacht hatten, bedeutete dies die erste politische Niederlage des deutschen Protestantismus, der mit der Beendigung des Kulturkampfes sein einträglichstes Propagandamittel einbüßte.

Von da an hörte die katholische Kirche nicht mehr auf, ihren Einfluß auf die deutsche Politik auszuüben und in zunehmendem Maße zu erweitern - im Wettbewerb mit der protestantischen Kirche. Die Fortschritte waren langsam - sogar sehr langsam. Die höchsten staatlichen Ämter blieben noch lange Zeit hindurch den Protestanten vorbehalten, und erst 1930 wurde ein Katholik, Dr. Brüning, Reichskanzler. Als Hitler an die Regierung kam, war jedoch auf konfessionellem Gebiet der protestantische Einfluß vorherrschend, und obgleich Hitler seiner Herkunft nach Katholik war, empfand er persönlich weit mehr Sympathie für die protestantische als für die katholische Kirche: Allein die Tatsache, daß er daran gedacht hatte, eine Nationalkirche des Reiches daraus zu

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machen, beweist dies unbestreitbar. Man könnte sogar hinzufügen, daß von jeher, seit der Entstehung Deutschlands, es nahezu einmütig die protestantischen Kreise waren, die den deutschen Nationalismus in seiner extremsten Form zum Ausdruck brachten - eine weitere Brücke also zwischen Hitler und ihnen. Man hat diesen Nationalismus als "preußisch" bezeichnet. Einverstanden, doch ich stelle die Frage: preußisch, weil er protestantisch, oder protestantisch, weil er preußisch war?

Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ging auch der überwiegende Einfluß des Protestantismus auf die deutsche Politik zu Ende. Zunächst wurde Deutschland in zwei Teile geteilt: 17 bis 18 Millionen seiner Einwohner kamen auf die östliche Seite des Eisernen Vorhanges, 51 bis 52 Millionen auf die westliche Seite. Doch gerade jene 17 bis 18 Millionen Deutsche, die von Deutschland abgetrennt wurden, sind Protestanten. Diese Tatsache hat zwei Folgen:

1. Auf der anderen Seite des Eisernen Vorhanges, die der kommunistischen Diktatur unterworfen ist, sind der protestantischen Geistlichkeit gewisse Stellungnahmen verboten, und allem Anschein nach erträgt sie diese Verbote ebenso widerspruchslos wie einst diejenigen, die ihr durch das Hitlerregime auferlegt wurden. Insbesondere läßt sie sich sehr bereitwillig zu der sowjetischen Friedenslehre hinführen. Und die protestantische Geistlichkeit in Westdeutschland richtet sich nach ihr aus: Pastor Martin Niemöller, der U-Boot-Kommandant des Ersten Weltkrieges und Verfasser eines Buches, das das Glaubensbekenntnis eines fanatischen Nationalisten darstellt und mit einer begeisterten Zustimmungserklärung zu der "nationalsozialistischen Revolution" endet, jener Freiwillige, der sich 1939 für eine Wiederverwendung im Kriegsdienst in den Armeen Hitlers meldete, ist heute der einflußreichste protestantische Geistliche und steht an der Spitze einer Friedensbewegung, die systematisch sämtliche Friedensparolen der Sowjetunion für sich in Anspruch nimmt. Die deutschen Pazifisten haben für die Lenkung ihrer Geschicke nichts Besseres gefunden. Kurz, der Eiserne Vorhang ist für die in 28 Teile aufgespaltene protestantische Kirche Deutschlands keineswegs ein zusätzlich trennender, sondern weit mehr ein verbindender Faktor gewesen, und zwar

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insofern, als er es den einzelnen Teilen ermöglicht, von Zeit zu Zeit eine Einheit der Anschauungen zu bekunden, zumindest über einen Punkt: den Frieden. Dies ist im übrigen ganz allgemein eine Tradition des Protestantismus: In eine Unzahl von Sekten mit gegensätzlicher Auffassung über Glaubensfragen aufgespalten, hat er niemals einen Weg gefunden, seine Einheit zu bekräftigen, außer über Probleme, die der Religion, zu der er sich bekennt, fernliegen.

2. Während die protestantische Kirche Deutschlands jenseits des Eisernen Vorhanges in ihren öffentlichen Stellungnahmen durch das Regime auf die Rolle eines Mittlers der Pax sovietica beschränkt wird - wobei ihr dieses Regime, nebenbei gesagt, wie allen Kirchen in der Ausübung ihrer Religion rechtlich nicht mehr Freiheit als einer Privatperson zugesteht -, wird sie in Westdeutschland in ihrem politischen Einfluß durch ein Zahlenverhältnis eingeschränkt: Im Jahre 1965 stehen sich dort Protestanten und Katholiken nicht mehr - wie in dem Deutschland vor 1914 oder zwischen den beiden Weltkriegen - im Verhältnis zwei zu eins, sondern nur noch im Verhältnis sechs zu fünf [291] gegenüber, d. h. zahlenmäßig ziemlich gleich, mit einem leichten Übergewicht der Protestanten. Politisch drückt sich diese Situation folgendermaßen aus: Wenn der Bundespräsident protestantisch ist (Heuss), ist der Bundeskanzler katholisch (Adenauer), und auf diese Mannschaft folgte ein katholischer Präsident (Lübke) und ein protestantischer Kanzler (Erhard). So als hätten die beiden Kirchen innerhalb der CDU/CSU einen Kompromiß geschlossen, einen Kompromiß, der weder der einen noch der anderen zusagt und bei dem eine jede die andere überwacht, bereit, die geringste Gelegenheit zu ergreifen, durch die sie über die andere die Oberhand gewinnen kann. Der außergewöhnliche Erfolg Bundeskanzler Adenauers wirkt zugunsten der Katholiken, die sich auf Grund ihrer Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus bereits in einer günstigen Position

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befinden: Sie haben den Wind im Rücken. Gegen die Protestanten wirkt die Unterstützung, die sie Hitler auf seinem Weg zur Macht leisteten, sowie jener Kryptokommunismus, durch den sie glaubten sich rehabilitieren zu können. Sie sind sich dessen bewußt geworden. Und dann kam der Stellvertreter, dessen Ziel es war, den Katholiken einen Schlag zu versetzen, von dem sie sich nicht erholen würden, und der gleichzeitig sie, die Protestanten, als eines der wesentlichen Elemente des Widerstandes gegen Hitler erscheinen lassen sollte.

Dies ist der erste Aspekt des Unternehmens Stellvertreter: ein Argument der Protestanten, um in Westdeutschland den politischen Einfluß der Katholiken zu bekämpfen und, was zweifellos dabei wesentlich ist, um eine Anhängerschaft zu vergrößern oder zumindest zu bewahren, welche ihr politisches Verhalten in der Vergangenheit und Gegenwart zuletzt äußerst unsicher gemacht hat. Daß sämtliche protestantische Kirchen der Welt wie ein Mann das Argument ihrerseits aufgegriffen haben, ist nur allzu natürlich, denn es ist in seiner Form das antipäpstliche Argument par excellence. Doch wir haben soeben gesehen, daß es in seinem Kern, wie Kipling sagen würde, etwas ganz anderes ist.

Das Argument eines Krämers übrigens, eines Krämers aus den Uranfängen des Handels: "Hier alles zum gleichen Preis, aber besser als gegenüber! Der Beweis dafür . . . " Ein Argument, an dem der Kunde von heute nur noch mit einem Lächeln ob dieser Naivität vorübergeht. Im Verlauf der Debatte hat eine der unzähligen gegen den Katholizismus protestierenden Sekten sehr offenherzig - und altmodisch - das verfolgte Ziel eingestanden, indem sie sich auf die Heilige Schrift berief: "Gehet aus von ihr [der katholischen Kirche], mein Volk, daß ihr nicht teilhaftig werdet ihrer Sünden, auf daß ihr nicht empfanget etwas von ihren Plagen! Denn ihre Sünden reichen bis an den Himmel, und Gott denkt an ihren Frevel [292]."

Sprich: Gehet aus von ihr und kommt zu uns.

Zu diesem Schluß gelangen sie alle: Der letzte Krämer unserer Zeit in dem abgelegensten Dörfchen ist geschickter.

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III. DIE EINHEITSFRONT GEGEN DEN PAPST

Es gilt jetzt, die Beweggründe zu analysieren, durch die die Gegner der katholischen Kirche, die sich mit der protestantischen zu dieser Art von "Einheitsfront" verbündet haben, geleitet wurden.

Nur zur Erinnerung verweilen wir bei jener geistigen Bewegung, die zu Beginn dieses Jahrhunderts, als der Sozialismus seine Einheit verwirklicht und die Gewerkschaftsbewegung ihren Weg gefunden hatte und als die Arbeiterschaft mit der Parole: "Der Kapitalismus - das ist der Feind!" zum Sturm auf das Regime ansetzte, diese davon ablenkte, indem sie ihr darlegte, daß der Feind nicht der Kapitalismus, sondern der Klerikalismus sei: "Der Klerikalismus - das ist der Feind!" Die Ablenkung gelang ausgezeichnet. Seitdem unterscheidet sich die europäische Linke von der Rechten nur noch durch einen Antiklerikalismus, der 30 Jahre später bis auf geringe Abweichungen zu einer Neuauflage des Kulturkampfes wurde. Während die Arbeiterschaft damit beschäftigt war, sich mit den katholischen Pfarrern zu schlagen, festigte das Regime in aller Ruhe sein inneres Gefüge und bereitete nicht weniger ruhig den Ersten Weltkrieg vor. Wie es weiterging, ist bekannt: Die Arbeiterbewegung hat sich niemals davon erholt! Jenem Antiklerikalismus selbst widerfuhr das gleiche Schicksal wie dem Kulturkampf: In der gleichen Weise wie Bismarck gegenüber Leo XIII. hatte nachgeben müssen, mußten die sozial Konservativen, die die Bewegung lanciert hatten, um die vor der Regierungsübernahme versprochenen Reformen nicht durchführen zu müssen, gegenüber Pius IX. nachgeben: von sich aus die Beziehungen zum Vatikan wiederherstellen, nach und nach die Ausnahmegesetze gegen die katholische Kirche aufheben usw. Der Antiklerikalismus ging daran zugrunde. In Frankreich, wo er am heftigsten war und den meisten Erfolg hatte, versuchen kleine Sekten ihn wiederaufleben zu lassen. Vergeblich. Ihre furchtbarsten Waffen sind die kleine Lederschürze, das Winkelmaß, der Zirkel und die Wurst am Karfreitag. Es ist nicht wahr, daß das Lächerliche nicht mehr tötet.

Im Prinzip jedoch war die Trennung von Kirche und Staat eine sehr gute Sache. Nur hätte sie bedeuten müssen: "Eine freie Kirche in einem freien Staat" gemäß der Formel Viktor Emanuels II.,

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d. h. eine Kirche, die letztlich auf den Status einer politischen Partei reduziert worden wäre, mit den gleichen Rechten wie alle anderen. Jedoch im Stadium der Durchführung bedeutete sie die Verdrängung der katholischen Kirche zugunsten einer anderen, deren Religion der Staat und deren Priester bei der Kommunion mit dem großen Baumeister des Universums die Lehrer sein sollten. Und noch dazu mit Hilfe von Ausnahmegesetzen. Einzig und allein durch Überraschung hat man es fertigbringen können, daß der Taschenspielertrick zu Beginn dieses Jahrhunderts gelang. Aber nicht für lange. Die Wurstesser vom Karfreitag, mit dem kleinen Lederschurz, dem Winkelmaß und dem Zirkel, die von einer Rückkehr zu jenen glücklichen Zeiten träumen, in denen ihr Ansehen hell erstrahlte, müssen sich ins Unvermeidliche schicken. Die Geschichte wiederholt sich nicht. Auf jeden Fall hat sie sich in dieser Hinsicht nicht wiederholt.

Väterchen Combes ist nicht wieder aus dem Grabe auferstanden, und seine verspäteten Jünger sind für das Ausmaß der durch den Stellvertreter ausgelösten Debatte nicht entscheidend gewesen. Das Ausmaß wurde vielmehr durch den Bolschewismus und den internationalen Zionismus bestimmt. Und obgleich ihre beiderseitigen Stellungnahmen in dieser Angelegenheit nicht die gleiche Absicht verfolgen, sind sie ihnen alle beide durch die deutsche Frage, so wie sie sich durch den Ausgang des Zweiten Weltkrieges stellte, eingegeben worden. Da sie die gleichen Wege benutzen, müssen sie überdies ganz sicher zum gleichen Endergebnis gelangen: zum Untergang der Freiheit in Europa, und zwar dadurch, daß Europa selbst unter den Einfluß des Bolschewismus gerät.

Ich habe häufig gesagt und geschrieben, daß der Bolschewismus unter dem Deckmantel einer Weltrevolution, die alle Völker vom kapitalistischen Joch befreien soll, nur die moderne Form jenes Panslawismus ist, den unter demselben Deckmantel der Panschintoismus seit kurzem zu betreiben sucht. Unter Stalin kam man schließlich zu der Auffassung, daß nicht mehr die Befreiung der Völker durch die Revolution das Ziel sei, sondern daß mit Hilfe eines Krieges die bolschewistische Herrschaft auf ganz Europa ausgedehnt werden solle, das in wirtschaftliche und soziale Strukturen eingezwängt worden sei, die weit hinter denen des liberalen

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Kapitalismus zurückstünden, die gegenwärtig in Rußland vorherrschen. Das zeigt, wie jener Sozialismus beschaffen ist, und führt gleichzeitig jene Revolution auf ihre richtigen Proportionen, nämlich die einer Bauernfängerei, zurück.

Wie die Erfahrung zeigt, haben sich die Berechnungen Stalins nur zur Hälfte als falsch erwiesen. Zwar ist es ihm nicht gelungen, Rußland aus dem Zweiten Weltkrieg herauszuhalten, doch hat dieser Krieg immerhin die Hälfte Mitteleuropas dem Panslawismus ausgeliefert und seine Grenzen bis auf 50 Kilometer an Hamburg herangerückt. Soll nur Westdeutschland zusammenbrechen, dann ist der Weg zum Atlantik für ihn frei. Jedesmal also, wenn ein Schritt in Richtung auf die Rückgliederung Westdeutschlands - und, auf dem Wege über die Wiedervereinigung, selbst die Ostdeutschlands - in die übrigens allen offenstehende europäische Völkergemeinschaft unternommen wird, ergehen sich die Nachfolger Stalins in Schmähungen gegen den deutschen Militarismus, gegen die neonazistischen Bonner Revanchisten, gegen das für den Zweiten Weltkrieg verantwortliche Deutschland, die Kriegsverbrecher usw. Das ist ihr moralisches Argument. Es soll in der öffentlichen Meinung jene offensichtliche Lüge zugkräftig erhalten, die durch die dreizehn Nürnberger Prozesse in den Rang einer geschichtlichen Wahrheit erhoben wurde, daß Deutschland, da allein für den Zweiten Weltkrieg verantwortlich, auch allein die Last der Wiedergutmachung der angerichteten Schäden zu übernehmen habe.

Deutschland bezahlen lassen, jetzt und immerdar, heißt, es zum wirtschaftlichen Zusammenbruch treiben. Mit Hilfe des sich daraus ergebenden Chaos hoffen die Nachfolger Stalins zuversichtlich, es in ihre Gewalt zu bringen.

Und das wird das Ende des freiheitlichen Europas sein, denn ohne ein freies, selbständiges und gleichberechtigt in die Gemeinschaft der Völker des alten Kontinents wiedereingegliedertes Deutschland ist jenes Europa undenkbar. Dann werden die Grenzen des Panslawismus einen weiteren beachtlichen Schritt nach Westen verlagert worden sein, und der Bolschewismus wird kaum mehr etwas unternehmen müssen, damit sie mit der Atlantikküste zusammenfallen.

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So sehen die Berechnungen des Bolschewismus aus.

Und so das Unternehmen, dem die gesamte protestantische Geistlichkeit aus Gründen des religiösen Prestiges im Staate soeben mit dem Stellvertreter ein Propagandaargument lieferte und dem die internationale zionistische Bewegung sich aus materiellen Gründen anschloß. Denn durch die erneute Bekräftigung der Alleinschuld Deutschlands wird in der Tat die Zahlung jener Entschädigungssummen gerechtfertigt, die ihr die Konsolidierung des Staates Israel und den "Wiederaufbau des jüdischen Lebens" in der Welt ermöglichen. Weisen wir beiläufig darauf hin, daß diese "Wiedergutmachungssummen" nur von Westdeutschland gezahlt werden! Ihr Betrag ist so hoch, daß das, was 1919 durch den Versailler Vertrag gefordert wurde, im Vergleich dazu eine Bagatelle war. (Siehe Anhang V)

Doch die christlichen Progressisten? Zunächst einmal sind sie darum bemüht, sich ein gutes Gewissen zu verschaffen und Verzeihung zu erwirken für die Haltung, die sie, taub gegen die Appelle Pius' XII., angesichts und während des Krieges eingenommen haben - eine Haltung, die während des Krieges häufig zweideutig war: Ich kenne Fälle von Leuten, die heute sehr von oben herab reden und die . . . Nun ja! Darüber hinaus jedoch quält sie die Versuchung des Marxismus, dessen Methoden in ihren Augen allein die katholische Kirche zu retten vermögen: die Öffnung nach links. Gerade in dem Augenblick, in dem die Erfahrung Rußlands den Beweis für den Bankrott des Marxismus erbracht hat und in dem in der übrigen Welt die Linke gesellschaftlich nur noch einen Mythus darstellt, der durch den Bolschewismus künstlich unterhalten wird, der im politischen Fächer nicht links, sondern östlich steht, d. h. an der äußersten Rechten, und zwar sehr wahrscheinlich noch weiter rechts als die alten Parteien, die wir gewöhnlich dort einordnen. Denn an der äußersten Rechten steht der Totalitarismus, und zwar ganz gleich, unter welcher doktrinären Farbe auch immer er sich versteckt. In bezug auf den Totalitarismus aber können jene alten Parteien dem Bolschewismus nicht, bei weitem nicht, das Wasser reichen. Was hier gesagt werden soll, ist, daß man von dem Augenblick an, in dem man von einer Öffnung nach links spricht und sich dabei nur noch an den Bolschewis-

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mus wendet, erstens die Öffnung nach der äußersten Rechten, also der schlimmsten, hin vornimmt und daß zweitens alles, wozu man gelangen kann, bedeutet, ihm in die Hände zu arbeiten. Wenn man überdies aus Sorge um die Lehre die Kirche mit dem marxistischen Denksystem ausstatten will, kann man nur noch um so sicherer dahin kommen. Und noch rascher: Es ist bekannt, in welches Abenteuer kürzlich die Öffnung nach links, mit dem Segen desjenigen, den man den guten Papst Johannes XXIII. nennt, Italien beinahe gestürzt hätte. Und man erschauert bei dem Gedanken, was hätte geschehen können, wenn die italienische Geistlichkeit marxistisch gewesen wäre! Die bolschewistische Politik der "den Katholiken dargebotenen Hand", jenes Bolschewismus, der sie im Osten mit der Knute behandelt, ist im Westen lediglich eine Neuauflage des Grundsatzes von dem "Vogel, den man zu rupfen gedenkt", jenes Grundsatzes, den der Bolschewismus seit fünfzig Jahren mit soviel Erfolg gegenüber dem Sozialismus praktiziert. Die Erfahrung lehrt, daß seine Technik auf diesem Gebiet äußerst bewährt ist. Der geringste Vertrag, den man mit ihm schließt, das geringste Zugeständnis gegenüber seinen Methoden oder seiner Lehre läuft darauf hinaus, daß man den Wolf in den Schafstall einläßt, wo er stärker ist als alle Schafe zusammen.

Es ist lediglich eine Frage des Kräfteverhältnisses.

Und diejenigen, die der Versuchung unterliegen, sind politisch blind.

Nachdem dies gesagt ist, mag sich die katholische Kirche ruhig wandeln, ja sogar aus dem geistigen Leben der Völker verschwinden, wie sie aus ihrem materiellen Leben verschwunden oder doch nahezu verschwunden ist - der Verfasser dieser Studie sieht darin, wie der Leser bereits verstanden hat, keinerlei Nachteil, im Gegenteil. Doch wenn sie dabei ihre Anhängerschaft dem Bolschewismus überläßt, sieht die Sache ganz anders aus.

Zu diesen rein politischen Motiven, die über das Thema des Stellvertreter Protestanten, Juden, christliche Progressisten und Bolschewisten zu einer gemeinsamen Offensive gegen die katholische Kirche zusammengeführt haben, muß noch ein ausschließlich religiöser Beweggrund hinzugefügt werden, der ein Dogma des Christentums in Frage stellt und der für die internationale zioni-

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stische Bewegung charakteristisch ist: die Anklage, die seit zweitausend Jahren auf dem jüdischen Volk lastet und aus ihm in den Augen der ganzen Christenheit ein Volk der Gottesmörder macht. Als die Einberufung des Konzils durch Johannes XXIII. angekündigt wurde, mußte die internationale zionistische Bewegung darin eine ausgezeichnete Gelegenheit erblicken, diese Anklage offiziell aufheben zu lassen. Und zwar um so mehr, als das Los, welches den Juden während des Zweiten Weltkrieges einzig und allein deswegen zuteil wurde, weil sie Juden waren, in der ganzen Welt allgemeine Empörung ausgelöst hatte, die nicht weniger gerechtfertigt bleiben würde, wenn die Vorkommnisse all der maßlosen Übertreibungen entkleidet und auf ihre wahren Größenverhältnisse zurückgeführt würden, und die durch die nicht weniger allgemeine Sympathie, die dieses Schicksal den Juden einbrachte, in der öffentlichen Meinung eine Atmosphäre schafft, die der Revision dieses Bannfluchurteils günstig ist.

IV. FÜR DEN FRIEDEN

Dies sind die verschiedenen Aspekte der "Operation Stellvertreter", und in dieser Weise sind sie politisch miteinander verknüpft.

Fassen wir sie noch einmal zusammen: die Sorge der protestantischen Kirche um eine Rückeroberung ihrer Positionen gegenüber der katholischen Kirche; die politische Vorherrschaft, die sie in Deutschland eingebüßt hat; die panslawistischen Ambitionen des Bolschewismus; die Liebe auf den ersten Blick der christlichen Progressisten für den Marxismus bolschewistischen Gepräges; schließlich das Interesse der internationalen zionistischen Bewegung an den von Deutschland geforderten Kriegsentschädigungen sowie ihre Sorge um eine Aufhebung der Anklage wegen Gottesmordes oder, genauer gesagt, des Mordes an Christus, die auf dem jüdischen Volk lastete.

Alles dies aufgepfropft auf die deutsche Frage, so wie sie sich durch den Ausgang des Zweiten Weltkrieges stellte, das heißt auf die einseitige Verantwortlichkeit Deutschlands an der Entfesselung dieses Krieges. Nachdem es nicht geglückt war, in Nürnberg den

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rechtlichen Nachweis für diese einseitige Verantwortlichkeit zu erbringen, gedenkt man ihn jetzt nur noch vor der öffentlichen Meinung, mit Hilfe von spektakulären Prozessen und skandalösen Pamphleten, zu erbringen, und zwar durch die Verbrechen, die man die Deutschen beschuldigt, während des Krieges, das heißt nach seiner Entfesselung, begangen zu haben. Mit gleicher Methode könnte man ebensogut beweisen, daß die Engländer, die Franzosen oder die Russen - oder alle zusammen und unter einer Decke - für diesen Krieg allein verantwortlich seien: Man brauchte nur Auschwitz durch Dresden, Leipzig und fünfzig andere deutsche Städte, nicht zu vergessen Hiroshima und Nagasaki, oder durch Katyn usw. zu ersetzen, und die Sache wäre gemacht. Das Bestürzendste an dieser völlig neuen Art der Beweisführung ist, daß sie von bedeutenden Professoren unternommen wird, die ebenso reichlich mit Diplomen versehen wie hochdekoriert sind und deren Verdienste man tagtäglich feierlich herausstellt, wobei man uns auffordert, uns ehrerbietig vor ihrer Wissenschaft zu verneigen. Eine Tatsache, die es einem für immer verleiden kann, Gelehrter zu werden!

Wir werden nicht weiter bei der Nichtigkeit jener These verweilen, nach der bei Ausbruch eines Krieges die Verantwortung dafür nur einem einzigen Volk oder den Führern eines einzigen Volkes zukommen kann. Dies hatte Pius XII. vollkommen begriffen, und dieser These versuchte er in den Handlungen Geltung zu verschaffen, die man ihm vor allem zum Vorwurf macht.

Am Ende dieser Studie bleibt nur noch eine Alternative: Entweder man gibt zu, daß die Völker stets ohne Urteilsvermögen handeln und daher an den von ihren Führern getroffenen Entscheidungen stets unschuldig sind - übrigens nicht nur hinsichtlich Krieg und Frieden [293] -, daß bei Ausbruch eines Krieges ihre Führer, und zwar alle, ohne Ausnahme, auf beiden Fronten, allein verantwortlich sind und daß infolgedessen der Prozeß nicht mehr zwischen den Siegermächten und dem besiegten Volk stattfindet, sondern zwischen der Gemeinschaft der Völker, in der Sieger und

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Besiegte miteinander ausgesöhnt sind, und der Gemeinschaft ihrer Führer. Oder, zweite Möglichkeit, man bleibt beim alten Schlendrian, verzichtet darauf, aus diesem Teufelskreis, diesem Circulus vitiosus des Krieges, der nur wiederum Krieg hervorbringt, herauszukommen, und muß dann sogleich, unverzüglich, das jüdische Volk erneut verurteilen, zumindest für den Mord an Christus.

Bei den ersten der beiden Möglichkeiten wird das Problem rasch gelöst sein: Die Völker sind großmütig, tragen nicht nach, Verzeihen ist ihre natürliche Geisteshaltung. "Sie werden Generalamnestie beschließen und die streitenden Parteien abweisen, ohne einer von ihnen recht zu geben und ohne daß es überhaupt nötig ist, zu prozessieren. Die Parteien mögen gemeinsam darangehen, die Schäden zu reparieren und endlich einmal mit diesem immer wiederkehrenden Völkermord, der ständig über unseren Häuptern schwebt, ein Ende machen." Es ist offensichtlich sehr zweifelhaft, daß die Führer der Völker diese Sprache freiwillig anhören, und das ist die schwache Stelle dieser vernünftigen Überlegungen. In den herkömmlichen Strukturen nämlich, an denen die Führer der Völker aus Egoismus sosehr festhalten, verfügen sie noch über genügend Kräfte, geheime oder andere, um derartige Überlegungen zum Scheitern zu bringen. Doch früher oder später wird der Geist über das Schwert siegen. Die erschreckenden Fortschritte der Atomwissenschaft beweisen durch die Reaktionen, die sie hervorrufen, bereits, daß dieser Zeitpunkt nicht mehr fern ist. Nur noch ein winziges Nachhelfen, und es wird geschafft sein. Nicht zweifelhaft und äußerst tröstlich ist dagegen, daß die Völker diese Sprache sprechen. Man braucht nur zu sehen, welcher Gunst sich in der französischen öffentlichen Meinung die Kampagnen für die Amnestie sämtlicher als Verbrechen angerechneten Handlungen derjenigen erfreuen, die zugunsten des FLN (Front de Libération Nationale) oder der OAS (Organisation de l'Armée Secrète) in den Algerienkrieg verwickelt wurden, wo doch dieser Krieg noch kaum zu Ende gegangen ist. Diese Tendenz ist so stark, daß die Regierung, obwohl sie dies nicht im geringsten beabsichtigt, gezwungen ist, der öffentlichen Meinung nachzugeben. An dem Tage, an dem jemand aufsteht und ganz laut sagt, was alle Leute insgeheim denken, und von einer europäischen Amnestie für alle Handlungen

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spricht, die sich auf einen jetzt schon 25 Jahre zurückliegenden Krieg beziehen, einer Amnestie, die für den Krieg selbst, einschließlich derer gilt, die für ihn verantwortlich sind, werden alle Völker so reagieren wie das französische Volk angesichts der Folgen eines Krieges, der gerade erst zu Ende ging. Die Straße der Hoffnung wird alsdann erneut für den wahren Frieden offenstehen.

Bei der zweiten der beiden Möglichkeiten gibt es nur noch das Gesetz der Vergeltung des Alten Testaments, das die Zähne der Kinder stumpf macht bis ins 77. Glied, um sie dafür zu strafen, daß die Väter unreife Trauben gegessen haben: ein Gesetz, das auf der allerniedrigsten, bis ins Äußerste getriebenen Rachsucht beruht und das, auch wenn es im Arsenal der Argumente der hebräischen Theologie und Gerichtsbarkeit sorgsamst bewahrt und verehrt wird, nichtsdestoweniger aus den Uranfängen der Menschheit stammt und im 20. Jahrhundert nur noch eine grobe Beleidigung gegenüber den erhabensten Grundsätzen einer Zivilisation darstellt, die, wenn sie auch praktisch ihre Ziele noch nicht erreicht hat, doch zumindest das Verdienst besitzt, daß sie theoretisch die Menschenwürde zu ihrem wichtigsten Anliegen erhoben hat. Dieses Gesetz der Vergeltung führt die Menschheit von einer Schande zur anderen: von derjenigen, die - nachdem sie alle Menschen ohne Ausnahme unwiderruflich dazu verurteilt hatte, Verbrecher zu sein, indem sie jenes große Kollektivverbrechen, den Krieg, zuerst mit großem Getöse forderte und dann rechtfertigte - darin bestand, das Kriegsverbrechen des einzelnen zu erfinden, zu derjenigen, die 20 Jahre später seine Nichtverjährbarkeit erfand, und vom Auschwitz-Prozeß zum Stellvertreter. All das, um letzten Endes aus dem systematischen Deutschenhaß das fundamentale Gesetz der europäischen Politik zu machen und einen zusätzlichen Kriegsherd im Vorderen Orient zu schaffen.

Die Diskussion zwischen den Anhängern der beiden Möglichkeiten geht weiter. Da das Eigentümliche des Hasses und der Rachsucht aber darin besteht, niemals die Waffen niederzulegen [294], hat es nicht den Anschein, daß sie ihrem Ende zugeht: Die Polemik um den Stellvertreter dürfte geeignet sein zu beweisen, daß die Heuchler und Exzentriker, die diese beiden Ansichten vertreten, sich auf dem absteigenden Ast befinden, doch . . .

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Aber wenn auch die Wahrheit und der gesunde Menschenverstand sich nach und nach durchsetzen und wenn auch theoretisch die Masse jener bösartigen Heuchler und Exzentriker sich merklich verringert hat, so sind ihre Anführer nichtsdestoweniger sehr machtvoll organisiert. Praktisch sitzen sie immer noch oben und halten die Geschicke der Welt in Händen. Sollte es ihnen gelingen, die Situation zu ihren Gunsten wiederherzustellen oder sollte jener Umschwung der öffentlichen Meinung, dessen erste Anzeichen bereits zu erkennen waren, zu lange auf sich warten lassen, so wäre das der Triumph des panslawistischen Bolschewismus, das heißt durch die Vernichtung Deutschlands das Ende jenes Europas, das trotz all dem, was Abstimmung und andere, nicht weniger verfälschte Meinungsforschungen bezeugen, im Traum und im Wachen in den Herzen aller Europäer ruht.

Der Leser wird mir beipflichten, daß dieser Blick in die Zukunft es wohl wert war, diese Warnung auszusprechen.

Um so mehr als hinterher . . . Doch es ist besser, nicht daran zu denken, was hinterher kommen würde.

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Nachwort

Kaum war der Schlußpunkt unter diese Studie gesetzt, als, wie aus der Büchse der Pandora, ein neuer Ankläger, noch bedrohlicher und noch kategorischer als alle seine Vorgänger, sich im Anklagestand erhob: "Ja, der Papst wußte", erklärte er in einem Ton, der keine Widerrede duldete, "er wußte und er schwieg."

Es handelt sich diesmal um den "angesehensten italienischen Journalisten für religiöse Angelegenheiten". Sein Name: Carlo Falconi. Das heißt für eine beachtliche Anzahl von Gutgläubigen sehr wahrscheinlich, daß dieses Ansehen immerhin ein recht gut gehütetes Geheimnis war [295]. Sein Manager: Candide, eine Zeitschrift, die bis jetzt eher zur entgegengesetzten These hingeneigt hatte. Ziemlich überraschend also. Aber ist eine Zeitschrift, die sich niemals ändert, nicht absurd?

Kurz: In leuchtenden Schlagzeilen, über die ganze Titelseite und mit dem Foto Pius' XII. bringt Candide [296], die die bezeichnendsten Auszüge der demnächst erscheinenden Abhandlung [297] des neuen Anklägers veröffentlicht, in einem grellen Rot ihre kategorische Erklärung mit diesem Keulenschlag: "Das Dokument, das alles enthüllt". Dieser Schlag wird durch einen weiteren Zwischentitel der Auszüge verdoppelt, aus dessen Formulierung zur Genüge hervorgeht, daß er als Gnadenstoß gemeint ist: "Das entscheidende Dokument über den Vatikan und die Nazi-Lager."

Man kann den Wert eines Buches nicht nach Auszügen allein beurteilen. Zumindest aber darf man darin die Punkte erwarten, die an dem Buch für den eventuellen Leser am bedeutsamsten und verlockendsten sind. Im vorliegenden Fall jenes "entscheidende Dokument, das alles enthüllt". Man liest also und erfährt, daß der Verfasser "in den Archiven des Heiligen Stuhls" den Beweis entdeckte, daß "Ja, der Papst wußte". Doch von einem Dokument erfährt man nichts: Das Dokument ist vielmehr - halten wir uns gut fest - die Abhandlung des Anklägers selbst!

Wirklich ein bewundernswertes Verfahren!

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Dagegen findet man in diesen Buchauszügen zwei neue Zeugen mit ihrem Foto: Admiral Canaris, den ehemaligen Chef der Abwehr im Dritten Reich, und von Papen, den früheren Botschafter Hitlers in Ankara, wo er engste Beziehungen zu Msgr. Roncalli (dem verstorbenen Johannes XXIII.) unterhielt, der dort Nuntius Pius' XII. war.

Das hier angewandte Verfahren ist nicht weniger bemerkenswert. Unter dem Bild des ersten findet sich folgende Erläuterung: "Canaris, Chef des nationalsozialistischen Geheimdienstes, soll den Vatikan über die nationalsozialistischen Grausamkeiten informiert haben." Die übliche hypothetische Ausdrucksweise aller Ankläger Pius' XII. Man sucht im Text nach einer Rechtfertigung dafür: Die Formulierung ist darin wohl wieder aufgegriffen, doch ein Beleg wird nicht gegeben. Eine schlichte Unterstellung also.

Der Text unter dem Foto von Papens hat die Form einer positiven Aussage: "Der Botschafter Hitlers hatte dem Delegaten des Vatikans, Msgr. Roncalli, Indiskretionen übermittelt." Sieht man sich den Text genauer an, so erfährt man, daß dies nur "aller Wahrscheinlichkeit nach" geschah, aber erhält nicht den geringsten Hinweis auf diese "Indiskretionen".

Im Falle Papens sind wir durch seine Aussagen in Nürnberg glücklicherweise darüber informiert, was er Msgr. Roncalli hat übermitteln können:

" . . . unsere allgemeine Kenntnis war die, daß die Juden in Lager nach Polen abtransportiert werden; aber von einer vorsätzlichen Extermination . . . ist uns nichts bekannt gewesen [298] . . . Ich glaube, sie sollten deportiert werden, Mylord, nach Polen. Aber daß sie vernichtet werden sollten, das haben wir 1944 nicht gewußt . . . Zum Zwecke der Vernichtung - ich glaube, daß uns das damals nicht gesagt worden seit [299]."

Und er hatte am vorhergehenden 19. September im Ermittlungsverfahren deutlich gemacht, daß er erst "hier [in Nürnberg] von all den Verbrechen erfahren [300] hätte".

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Er hat also Msgr. Roncalli nicht mehr sagen können. Doch der Leser weiß durch die in dieser Studie angeführten Texte Pius' XII. (insbesondere seine üblichen Ansprachen vom 2. Juni jeden Jahres, einschließlich derjenigen vom 2. Juni 1945 und seines Schreibens an Kardinal von Preysing), daß alles dies, und außerdem weitaus genauer, schon lange vor 1944 (seit 1939 für Polen, 1941 für die Slowakei, 1942 für Holland usw.) im Vatikan bekannt war. Das Schreiben Kardinal Tisserants bezeugt andererseits, daß man darüber hinaus dort nichts gewußt hat, vor allem nicht über Auschwitz, sondern "erst nach der Ankunft der Alliierten in Deutschland [301]" davon erfahren habe, d. h. frühestens Ende 1944 oder Anfang 1945.

Nach den Auszügen beurteilt, trägt also die Abhandlung des Journalisten Carlo Falconi keine neuen Gesichtspunkte in die Debatte - außer einem: Seine Vorgänger im Anklagestand beschränkten sich darauf, Fakten zu verschweigen oder sie tendenziös auszulegen, er hingegen geniert sich nicht, sogar welche zu erfinden. Seine Darstellungen erfolgen in der Form einer ungesicherten Annahme, die Schlußfolgerungen im Indikativ der positiven Aussage: Nur darin liegt seine Originalität.

Was die von Carlo Falconi angeführten realen Fakten betrifft, war es keineswegs notwendig, sie in den Archiven des Heiligen Stuhls zu ermitteln: Man fand sie bereits in der Presse, und daher kannte jedermann sie schon lange, bevor er sie uns enthüllte. Mit einem Wort, es waren offene Geheimnisse. Niemand hat überdies jemals behauptet, Pius XII. habe die Fakten nicht gekannt. Bemerkenswert ist hierbei, daß unser Verfasser, der immerhin ehrlich genug war, zuzugeben (was seine Vorgänger nicht oft taten), daß sie ohne Ausnahme diplomatische Proteste des Vatikans ausgelöst haben, in einem sensationellen Titel trotzdem daraus folgerte: "Die wahren Gründe für das Schweigen Pius' XII. [302]".

Bei der anschließenden Darlegung dieser "wahren Gründe" unterrichtet uns Carlo Falconi, damit niemand seine Absichten mißverstehen möge, gleich zu Beginn davon, daß "Pius XII. außer-

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gewöhnlichen Mut besaß", zugleich aber, daß er "seiner Veranlagung nach ängstlich und zurückhaltend" war, und schließlich, daß er "niemals gewagt hat".

Nachdem er diese von einer so seltsamen Logik zeugende Vorstellung zum Prinzip erhoben hat, fügt er noch hinzu, daß "die im Stellvertreter vorgebrachten Motive nicht der Wirklichkeit entsprechen". Doch hören wir, welche er selbst gefunden hat:

"die Sorge Pius' XII., der Kirche in ganz Europa die Möglichkeit ihres Fortbestehens zu sichern, und zwar mit ausreichenden Kräften, um in der Nachkriegszeit die Zukunft des Kontinents und der ganzen Welt in entscheidender Weise zu beeinflussen";

"seine Überzeugung, daß die Schwächung des Nationalsozialismus dem Kommunismus nützlich wäre, insbesondere wenn man das blinde Vertrauen berücksichtigt, das die Staatsmänner der Alliierten in die kommunistischen Führer setzten";

"seine Deutschfreundlichkeit [über die, wie er sagt,] man viel und in sehr überzeugender Weise geschrieben hat".

Daraus sieht man kaum, was diese Abhandlung von denjenigen der Herren Hochhuth, Friedländer, Nobécourt und Genossen unterscheidet, deren Hauptanklagepunkte ganz genau die gleichen sind, nur anders formuliert.

Es soll daher über Carlo Falconi nur noch eine einzige Bemerkung gemacht werden, eine Bemerkung, die für alle, die ihm auf diesem Weg vorangingen, wie für alle, die ihm darauf folgen werden - und es werden zweifellos noch welche kommen -, gilt:

Wenn derartige, immer gleiche Anklagen, die durch derartige ebenfalls immer gleiche Verfahren gestützt werden, weiterhin in Umlauf gesetzt werden können und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu fesseln vermögen, dann einzig und allein deshalb, weil die Verteidiger Pius' XII. nicht den Mut gehabt haben, die Debatte über die untergeordnete Frage, was er wußte oder nicht wußte, hinauszuführen, und weil sie zugelassen haben, daß

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ihre Gegner gerade diese Frage zum "Schlüssel des Problems" (so Carlo Falconi) seines Verhaltens machten. Doch bekanntlich liegt der Schlüssel des Problems nicht dort, sondern in seiner Theorie vom Frieden bzw. von der Wiederherstellung des Friedens, wenn der Krieg ausgebrochen ist, einer Theorie, die übrigens in glänzendster und angemessenster Weise in einem soeben erschienen Buch [303] dargelegt ist, das einige von denen, die die Verteidigung Pius' XII. übernommen haben, so leichtfertig sie sich bisher auch gezeigt haben mögen, vielleicht nicht ohne Gewinn lesen würden.

Den 9. Juni 1965


Fußnoten:

[267] William L. Shirer, Le IIIe Reich, des origines à la chute

[268] Rassinier, Zum Fall Eichmann: Was ist Wahrheit? Oder die unbelehrbaren Sieger

[269] Von mir kursiv, P. R.

[270] Shirer, Aufstieg, S. 151 f.

[271] Ebd., S. 161

[272] Shirer, Le IIIe Reich, Bd. I, S. 259

[273] Schönere Zukunft v. 7. Februar 1933, zitiert nach Documentation catholique v. 28. Februar 1964. (Rückübersetzt. - Anm. d. Übers.)

[274] Die deutschen Briefe, wie angegeben

[275] Vgl. unten Anhang I, S. 211-218.

[276] Vgl. unten Anhang III, S. 226-231.

[277] Zitiert nach Shirer, Aufstieg, S. 195

[278] Documentation catholique, 8. April 1933. (Zitiert nach Hans Müller, Katholische Kirche und Nationalsozialismus, Dokumente 1930-1935, 1963, S. 76 ff. - Anm. d. Übers.)

[279] Documentation catholique, 8. April 1933 (Rückübers. - Anm. d. Übers.)

[280] Ebd., 3. April 1933

[281] Vgl. oben S. 65 ff.

[282] Shirer, Aufstieg, S. 232

[283] Deutsche National Zeitung v. 16. April 1963

[284] Shirer, Aufstieg, S. 233

[285] Zitiert nach Shirer, Le IIIe Reich, S. 261. (Rückübers. - Anm. d. Übers.)

[286] Vom U-Boot zur Kanzel, Warneck, Berlin 1934. (Pastor Martin Niemöller war während des Ersten Weltkrieges U-Boot-Kommandant.) Das Buch wurde im nationalsozialistischen Deutschland zu einem echten Bestseller und erlebte zahlreiche Auflagen. Die Werbung dafür wurde von der nationalsozialistischen Presse gemacht.

[287] Deutsche National Zeitung, 16. April 1963

[288] Shirer, Aufstieg, S. 234 f.

[289] Ebd., S. 232

[290] Vgl. die Beschlüsse der aufeinanderfolgenden Fuldaer Bischofskonferenzen oben S. 174

[291] In abgerundeten Zahlen kann die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland nach ihrem Bekenntnis folgendermaßen veranschlagt werden: Insgesamt: 53 Millionen Einwohner; Protestanten: zwischen 27 und 28 Millionen; Katholiken: zwischen 23 und 24 Millionen; konfessionslos und sonstige Bekenntnisse: der Rest.

[292] Réveillez-vous! (Organ der Zeugen Jehovas), 22. Juli 1964, S. 19. Bei der angeführten Stelle handelt es sich um Offenbarung 18, 4-5.

[293] Hierzu sollte man auch das Werk Psychologie des foules von Bouglé heranziehen.

[294] In Rom sind sie so weit, Bomben unter die Fenster des Papstes zu legen, und keiner jener guten Apostel, die sich über die Stinkbomben im Athénée in Paris entrüsteten - übrigens mit vollem Recht -, hat dagegen protestiert. Zweifellos deswegen nicht, weil Bomben die Frage besser beantworten als Stinkbomben!?

[295] Er ist in Wirklichkeit ein ehemaliger Priester.

[296] 31. Mai 1965

[297] Bei Éd. du Rocher

[298] Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher, Sitzungstag 19. Juni 1946 (Nürnberg 1948), XVI, S. 465

[299] Ebd., S. 466

[300] Ebd., Sitzungstag 18. Juni 1946 (Nürnberg 1945), XVI, S. 372

[301] Vgl. oben S. 44 Trotzdem benutzt Carlo Falconi den Kardinal, um zu beweisen, daß der Papst "wußte".

[302] Candide v. 7. Juni 1965

[303] G. Herberichs, Théorie de la Paix selon Pie XII


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